Der «freie Text» ist eine zentrale «Technik» in unserer Praxis.
Viele von uns beginnen mit ihm ihren Unterricht zu «modernisieren».
Aber auch er hat seine Tücken,
will er nicht zum «Aufsatz mit freigewähltem Thema» verkommen.
Freinet, Der freie Text
Der freie Text muss wirklich frei sein.
Es scheint, als gäben wir da
eine überflüssige Selbstverständlichkeit von uns.
Jedoch sitzt die Tradition der Verschulung so fest,
sie hat so einschneidend die Mehrheit der Lehrer geprägt,
sie erlaubt so wenig Vertrauen ins Kind,
dass man zwar gerne freie Texte
schreiben lassen möchte,
wenn die Behörden es erlauben…
Aber Sie verstehen, man muss schon
die Kinder auf Gegenstände hinorientieren,
die untersucht oder entwickelt werden sollen…
Wir werden doch nicht alles Mögliche schreiben lassen…
Man macht also den „freien Text“,
wie man früher den befohlenen Aufsatz schreiben liess.
Man fordert die Kinder zu einer bestimmten Stunde auf,
einen freien Text zu schreiben.
Das heisst, man gibt ihnen nicht mehr
das Thema des Aufsatzes,
sondern lässt ihnen die Wahl ihres Themas.
Diese Übung sollte man vielmehr
‚Aufsatz über ein frei gewähltes Thema‘ nennen.
Wenn in diesem bestimmten Moment
das Kind keine Lust zum Schreiben hat,
so muss es trotzdem schreiben;
wenn es kein packendes Thema im Kopf hat,
muss es wohl oder übel eines finden.
Oder man wird ihm eines vorschlagen.
Und die so erhaltenen Aufsätze
werden vielleicht gelesen, aber auch nicht mehr.
Sie werden korrigiert
und in ein eigens dafür bestimmtes Heft abgeschrieben,
was immerhin schon einigen schulischen
und menschlichen Nutzen haben mag.
Man versteht jedoch, dass eine solche Arbeitstechnik,
wenn sie auch einen Fortschritt
im Vergleich zum vorgegebenen Aufsatzthema darstellt,
nur sehr selten die grossen Vorteile mit sich bringt,
die wir dem freien Text zuschreiben:
Spontaneität, Kreativität, Leben,
enge und konstante Verbindung mit der Umwelt,
tiefgehender Ausdruck des Kindes…
Ein freier Text muss wirklich frei sein,
d.h. man schreibt ihn, wenn man das Bedürfnis hat,
durch Schreiben oder Malen das auszudrücken,
was in einem vorgeht. (…)
Der freie Text darf nicht ein Anhängsel
an Ihre schulische Arbeit sein.
Er soll vielmehr Ausgangspunkt und Zentrum sein.
Es reicht nicht, ein- oder zweimal in der Woche
die freien Texte der Klasse zu lesen,
einen davon auszuwählen und ins Reine zu schreiben,
ihn anschliessend zu lesen und abschreiben zu lassen,
um dann zu den traditionellen Arbeiten überzugehen,
die in keinem Zusammenhang
mit dem für einen Augenblick geweckten Interesse stehen.“
in:
Célestin Freinet. Le texte libre.
Bibliothèque de l‘École Moderne. Cannes 1960, S. 12f.
deutsch aus:
Christine Koitka (Hg.). Freinet-Pädagogik. Berlin 1977, S. 16f.