Unsere Klassentagebücher

Im Jahre 1996 begann ich mit meinen Schüler:innen, Klassentagebücher zu führen. Die Idee dazu bekam ich von Heidi Bosshard und Silvia Herzog, welche mit solchen Büchern im A3 Querformat das Geschehen in ihren Klassen dokumentierten.

In der Freinetpädagogik werden diese Bücher «Livre de vie» (Buch des Lebens) genannt. Dazu habe ich im Archiv der ICEM eine interessante Beschreibung gefunden:

Es [Livre de vie] ist ein tägliches Zeugnis des Klassenlebens, zeigt die „Spuren“ der täglich geleisteten Arbeit: Arbeitspläne, Geschaffenes, Realisiertes, Nachrichten von Brieffreunden, Aktuelles, Berichte über die Entwicklung der Klasse, Protokolle von Gesprächsrunden und Klassenratssitzungen.

Zeugnis für wen?

  • Für die Kinder, die es gerne wieder lesen, es bei Diskussionen konsultieren
  • Für „Besucher“: Eltern, Kollegen, andere Kinder, […]
  • Für die Brieffreunde (Informationsmaterial)
  • Für den Lehrer (genaue Bilanz)
  • Für den Inspektor: Er wird dort alles finden, was er als „Spuren“ der Arbeit verlangen kann.
  • Für Praktikanten (Praktika zur Einführung in die Freinet-Pädagogik oder zur Reflexion über die Freinet-Pädagogik).1

Im gleichen Artikel des französischen Freinetlehrers G. Garret steht:

Es handelt sich um eine präzise Arbeit, die von einer kleinen Gruppe (zwei Kinder, jeden Tag) durchgeführt wird, die an diesem Tag Folgendes tun muss: Ihre Themen auswählen, sie behandeln, redigieren, layouten und dabei die Realität der Aktivitäten in der Klasse berücksichtigen – das ist Journalismus. Dies erfordert besondere Aufmerksamkeit, Nachdenken und Organisation.

Unsere Klassentagebücher neu

1 Livre de vie, Georges Garret, April 1981, in Chantiers pédagogiques de l’Est, Nr. 85, Mai 1981. https://www.icem-pedagogie-freinet.org/dans-notre-livre-de-vie

Es ist ein Werkzeug

– des schriftlichen Ausdrucks

  • interessante Ideen aus einem Interview oder einer Gesprächsrunde festhalten
  • eine Aktivität zusammenfassen
  • Informationen wiedergeben: z. B. das Wetter des Tages, lokale Nachrichten.
  • Überschriften auswählen

– künstlerischer Ausdruck

  • Schreiben, Layout, Illustration 1

In meiner Klasse realisieren wir die Idee des Klassentagebuches folgendermassen:
Die Kinder steuern Texte bei – allerdings nicht täglich.
Ein Traktandum in unserem Klassenrat ist seit den Anfängen 1996 das «Klassentagebuch»:
Die Schüler:innen machen Vorschläge, über welche wichtigen und weniger wichtigen Ereignisse und Themen man schreiben könnte. Danach melden sich Freiwillige zum Schreiben, meistens in Partnerarbeit.
Das Schreiben und Illustrieren geschieht dann in der Freien Arbeit.

Beim Durchblättern der ersten zwei Klassentagebücher des Schuljahres 1996/97 (da die Bücher nach einem Semester gefüllt sind und auseinanderzubrechen drohen, braucht es jeweils zwei Bände pro Schuljahr), staunte ich über die Vielfalt und vor allem über die grosse Anzahl Texte, welche die Kinder zu den wichtigen Geschehnissen im Schulalltag verfasst hatten.

Die Schüler:innen schrieben mehr als 40 Texte im Laufe des Schuljahres, d.h. in jeder Schulwoche mindestens einen. Die Titel der Texte reichen von «Schulanfang und neue Klasse», «Der Fülli», «Die Spiele» und «Wochenplan der Erstklässler» über «Der Jahrmarkt», «Das neue Fussballtor», «Thema Abfall», «Der Schnee», «Der Samichlaus» und «Weihnachten» bis zu «Skifahren», «Die Sonnentaler» [unsere Korrespondenzklasse], «Fasnacht», «Thema Comics», «Entstehung eines Elfchens», «Atelier Colorex», «Wolzenalplauf» und «Auf der Schulreise».
Die Schüler:innentexte werden durch farbenfrohe Zeichnungen illustriert. Manchmal findet man auch Fotos, vor allem Polaroid Sofortbilder, die von den Kindern geknipst wurden.

Daneben kann man in den Protokollen zu den wöchentlichen Vorstellungsrunden lesen, wer was präsentiert hatte und es der Diskussion und kritischen Beurteilung der Klassenkamerad:innen unterbreitete.


Ein Beispiel:

Auch die Protokolle des wöchentlichen Klassenrates sind vorhanden.
Ein Beispiel:

Weiter sind die gedruckten und illustrierten freien Texte in den Klassentagebüchern verewigt.
Das Einkleben der Beiträge war von Anfang an meine Arbeit. Meistens schaffte ich es aber erst in den Ferien, Zeit für das zeitaufwändige Nachführen zu finden.

Als im Sommer 2015 das Schulhaus Bühl aus akutem Schüler:innenmangel geschlossen werden musste, hatten sich 40 Klassentagebücher aus 20 Schuljahren angesammelt. Zum Glück blieb das Schulhaus zur Verfügung des Einwohnervereins Bühl, der Vereine und auch für interessierte Mieter:innen offen. Ich reservierte mir einen Kasten im ehemaligen Materialräumchen und füllte ihn mit den 40 Büchern, schrieb «Schularchiv Bühl» auf die Türe und verwalte seither den Schlüssel dazu. – Leider sind die Anfragen für einen Besuch des Archivs eher selten…
Im Jahre 2009 feierte ich meine 20 Jahre im Bühl und lud alle aktuellen und ehemaligen Schüler:innen und Kolleg:innen ein. Das Fest fand draussen auf dem Schulhausplatz statt. Im Schulzimmer hatte ich jedoch alle Klassentagebücher auf die Pulte gelegt – alle waren belegt und es sah toll aus! Viele der Ehemaligen schauten sich die Bücher aus ihren drei Jahren im Bühl an, lasen und fotografierten.

Heute sind es 26 Jahre her, seit ich mit den Klassentagebüchern angefangen habe – das sind gut 50 Bücher gefüllt mit Kindertexten, Zeichnungen, Fotos, Protokollen, Erinnerungen und Highlights aus dem Schulalltag!

Wenn ich die anfänglichen Bücher mit heute vergleiche, stelle ich einige Änderungen fest. Vieles ist aber auch gleichgeblieben: die Texte der Kinder zu wichtigen Ereignissen mit Zeichnungen dazu, die gedruckten Freien Texte mit Illustrationsdrucken, die Fotos, Begleitbriefe zur Kinderwelt, Elternbriefe, usw.
Die Anzahl der Kindertexte ist deutlich kleiner als vor 25 Jahren: 20 Texte zu den neuen Erstklässlern, Badi, Schulreise, Praktikant:innen, Altpapiersammlung, Skifahren, Langlaufen, usw. – Allerdings war diese 1.-3. Klasse sehr klein mit nur 10 Schüler:innen!

Protokolle zu den Vorstellungsrunden sind verschwunden, dafür gibt es welche zum Morgenkreis.
Ein Beispiel:

Der Klassenrat hat sich im Laufe der Jahre verändert, vor allem dank den Impulsen von Jean le Gal aus der Bretagne. Einerseits hat ein Teil der Traktanden neue Überschriften bekommen, anderseits basiert die Entscheidungsfindung, wenn irgend möglich, auf dem Konsensprinzip.
Ein Beispiel:

Das Führen eines Klassentagebuches war in den vergangenen 26 Jahren ein wichtiges und wertvolles Gemeinschaftsprojekt in allen meinen Klassen. Sicher das wichtigste neben der Druckerei. Die Schüler:innen schreiben meist mit grosser Begeisterung über unseren Schulalltag. Später schauen sie die Bücher mit Interesse immer wieder an.
Seit ich ein paar günstige Rollkoffer im richtigen Format angeschafft habe, können die Kinder die Klassentagebücher auch nach Hause nehmen und ihren Familien zeigen.

Zum Schluss drängen sich mir einige Fragen immer stärker auf: Was wird mit den über 50 Klassentagebüchern geschehen, wenn ich in einem guten Jahr pensioniert werde? Wo finden sie einen würdigen Platz? Wie können interessierte Personen sie weiterhin anschauen?
(aus Bindestrich Nr. 94)


Andi Honegger, andi_hon@gmx.ch